Experimentelle Archäologie
Die Experimentelle Archäologie versucht, archäologische Fragestellungen mittels wissenschaftlichen Experimenten zu beantworten. Dabei geht es oft (aber nicht ausschließlich) um vergangene Techniken und Handwerke. Häufig geht es um die Entstehung oder Verwendung eines Artefakts: „Wie wurde xy hergestellt/wie ist xy entstanden?“ oder „Wie wurde xy verwendet?“ Darüber hinaus sind auch gelegentlich sind auch andere Probleme, wie die Formationsprozesse (Abfallverhalten, Bodenlagerung, Überprüfung von Grabungsmethoden) Gegenstand von Experimenten, oder menschliches Verhalten, das eher in einem erweiterten Sinn als „Technik“ zu verstehen ist (Landwirtschaft, Siedlungsverhalten, Trageweise von Kleidung etc.).
Während die allerersten Experimente zur Klärung archäologischer Fragen ähnlich alt sind wie die Archäologie selbst und man bereits im 19. Jh. häufiger Experimente durchführte, begann man in der zweiten Hälfte des 20. Jh., sich der Theorie und Methode zuzuwenden, und es wurde der Begriff „Experimentelle Archäologie“ geprägt (R. Ascher 1961).
Es gibt seitdem eine bis heute anhaltende Diskussion um eine Standortbestimmung, wobei die experimentelle Archäologie von äußerlich ähnlichen Aktivitäten, wie Museumspädagogik, Handwerksvorführungen, Living History und Reenactment, abgegrenzt und die zentrale Bedeutung des wissenschaftlichen Experiments betont wurde, mit den Elementen Fragestellung und Hypothese, Versuchsaufbau, Beobachtung, Auswertung und Interpretation. Es gibt dabei einige an Überlegungen dazu, wie die Methodik des Experiments, für die Archäologie adaptiert und modifiziert werden sollte, denn im Vergleich zu Laborexperimenten, bei denen die Variablen weitgehend kontrolliert werden können, sind viele der untersuchten handwerklichen und technischen Prozesse komplex sind und der Faktor des menschlichen Verhaltens spielt eine große Rolle („Dynamisches Experiment“ etc.). Entsprechend finden sich in der experimentellen Archäologie auch Experimente ohne konkrete Hypothese, die eher der allgemeinen Orientierung dienen, um geeignete Fragestellungen und Hypothesen für folgende experimentelle Detailuntersuchungen Experimente zu finden („Pilotversuch“ etc.).
Mit der Ethnoarchäologie und der Archäometrie gibt es sowohl inhaltliche Überschneidungen und Anknüpfungspunkte – Handwerk, Technik, Materialeigenschaften – als auch ähnliche theoretische und methodische Grundlagen – Analogieschluss und Experiment. Für die Qualität und Aussagekraft von Experimenten zu handwerklich-technischen Prozessen wird immer wieder betont, dass es essentiell ist, dass sich die Ausführenden eine entsprechende Erfahrung und Routine in den Tätigkeiten haben müssen oder selbst evtl. sogar professionelle Handwerker*innen sein sollten.
Bei grundsätzlichen technischen Zusammenhängen, die in Laborversuchen nachgewiesen werden können – bei Keramikgefäßen z. B. Modifikationen, die thermischen Eigenschaften und damit theoretisch auch die Eignung als Kochtopf verbessert – stellt sich zuweilen die Frage, ob der nachgewiesene Effekt so bedeutend war, dass er von den damaligen Menschen in der alltäglichen Praxis überhaupt bemerkt wurde, und ob er bedeutend genug war, um ihn zu berücksichtigen (Signifikanz). Hier können experimentalarchäologische Untersuchungen helfen, die Erkenntnisse aus Laborversuchen oder ersten Pilotexperimenten durch Praxistests einzuordnen. Verwandt ist auch die Frage, ob und wie grundlegende technische Prozesse von den damaligen Menschen in der alltäglichen handwerklichen Praxis effektiv und wirtschaftlich effizient handwerklich umgesetzt werden konnten, d. h. ob ein Arbeitsaufwand vertretbar war etc.
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Forschungsgeschichte
Experimente, um archäologische Fragen zu klären, besonders technische Probleme, sind ähnlich alt wie die Archäologie selbst. Bereits im 19. Jh. wurden viele Experimente durchgeführt, so auch ein frühes Beispiel der experimentellen Untersuchung archäologischer Keramik (Hostmann 1874, 12 Anm. 3). Dort wird nur knapp und beiläufig in einer Fußnote erwähnt, wie in monatelangen Brennexperimenten die Herstellung eines schwarz glänzenden Kohlenstoffüberzugs urgeschichtlicher Urnen untersucht wurde. Ein Thema, das schon in der ersten Hälfte des 20. Jh. experimentalarchäologisch untersucht wurde, ist die Herstellung römischer Terra sigillata. Ein Pionier der experimentellen Archäologie in der Keramikforschung war der Bildhauer und Keramiker Adam Winter. Im Umfeld der ethnoarchäologischen Forschungen des klassischen Archäologen Rudolf Hampe. In den 1950er bis 1970er Jahren untersuchte er neben anderen Fragen vor allem die Herstellung der antiken Glanztonkeramik, d. h. Terra sigillata, Terra nigra und griechische Glanztonkeramik. Seine Experimente umfassten die Beprobung verschiedener Rohmaterialien, die Schlämmtechniken zur Herstellung der Glanztonengoben, Maltechniken und Malwerkzeuge sowie umfangreiche Brennversuche in rekonstruierten griechischen und römischen Töpferöfen (siehe unten). Im Bereich der mittelalterlichen Keramik wurden in den 1950ern/1960ern Experimente zur Herstellung von Kugeltöpfen durchgeführt (Nickel 1965; Bauer 1954/55; Faßhauer 1954). In der Zeit von den 1970ern bis heute nahmen experimentalarchäologische Untersuchungen zu. Es gibt wohl kaum experimentalarchäologische Tagungen, in deren Programm Beiträge zur Keramik fehlen. Dabei nehmen Brennversuche einen großen Raum ein. Über weitergehende, mehr speziellere Fragen der Töpfereitechniken, wie z.B. den Gefäßaufbau wurde dagegen nur relativ selten näher berichtet. Experimentelle Untersuchungen, die eine Beurteilung von Fehlbränden erlauben würden, fehlen noch weitgehend (Kohtz 1986).
Themenfelder
Töpferhandwerk
Verarbeitung und Eigenschaften spezieller Magerungszusätze, wie z.B. Haaren (Jaffra 2001)
Herstellung besonderer Gefäßformen
Ofen- und Brenntechnik
Eine alte Frage bezüglich der Herstellung von keramik ist die nach den Brenntemperaturen. 1992 äußerte Olivie Gosselain ernsthafte Zweifel an der Möglichkeit, mit den Identifikationen der Brenntemperaturen zu arbeiten, die mit technologischen Interpretationen gewonnen wurden. Der Vergleich thermometrischer Daten von verschiedenen Brenntechniken zeigt nämlich große Überlappungsbereiche, die es unmöglich machen, auf Grundlage von Brenntemperaturen technologische Differenzierung zu versuchen. Ethnoarchäologische Beobachtungen bei offenem Feldbrand in Kamerun zeigten zudem große Temperaturschwankungen innerhalb eines Brandvorgangs wie auch an einem Gefäß. Gosselain hat vorgeschlagen, stattdessen mehr auf die Aufheizgeschwindigkeit und die Brenndauer zu achten.
Brennexperimente an spätantiken und mittelalterlichen Öfen wurden in den vergangenen Jahren vor allem am LEA in Mayen durchgeführt (Hanning u.a. 2014; Döhner u.a. 2021).
Nutzung
Experimentelle Archäologie liefert Referenzen für die Bestimmung bzw. Analyse von Gebrauchsspuren (Höpken 2011) und Inhaltsresten (Evershed 2008).
Bodenlagerung
Auch die Bodenlagerung war Gegenstand experimentell-archäologischer Untersuchungen, etwa die Frage, wie weit Keramikscherben durch modernes Pflügen verlagert und zerstört werden (Reynolds 1982).
Forschungsressourcen
Filme einiger Experimente von Adam Winter unter https://www.propylaeum.de/themen/rolandhampe/filme
Literaturhinweise
- Arnold 1987: V. Arnold, Rohstofferfahrungen beim Töpfern nach vorgeschichtlicher Art. Arch. Inf. 10, 1987, 174-180. - DOI: https://doi.org/10.11588/ai.1987.2.26975
- Böttcher/ Böttcher 1996: G. Böttcher/G. Böttcher, Herstellung mittelalterlicher Töpferware im Museumsdorf Düppel. In: M. Fansa (Hrsg.), Experimentelle Archäologie im Museumsdorf Düppel (Oldenburg 1996) 34-40.
- Böttcher/ Böttcher 1996a: G. Böttcher/G. Böttcher, Praktische Erfahrungen im Museumsdorf Düppel und Kunstgriffe beim Brennen von Keramik in stehenden und liegenden Öfen. In: M. Fansa (Hrsg.), Experimentelle Archäologie im Museumsdorf Düppel (Oldenburg 1996) 85-90.
- Döhner u.a. 2021: G. Döhner/ L. Grunwald/ E. Hanning/M. Herdick/ A. Axtmann, »Unvollendete Technik« !? Eine experimentalarchäologische Studie am Modell eines Mayener Töpferofens (2. Hälfte 12. / 1. Hälfte 13. Jahrhundert). In: M. Gierszewska-Noszczyńsk/ L. Grunwald, (Hrsg.): Zwischen Machtzentren und Produktionsorten. RGZM-Tagungen 45 (Mainz 2021) S. 407–419. - https://doi.org/10.11588/propylaeum.996.c13299
- Gosselain 1992: O.P. Gosselain, Bonfire of the Enquiries. Pottery Firing Temperatures in Arcaeology: What For? Journal Arch. Science 19, 1992, 243-259. - DOI: https://doi.org/10.1016/0305-4403(92)90014-T
- Experimentelle Archäologie in Deutschland. Archäologische Mitteilungen aus Nordwestdeutschland, Beih. 4 (Oldenburg 1990) mit der Vorlage mehrerer Versuchsergebnisse.
- Evershed 2008: R. P. Evershed, Experimental approaches to the interpretation of absorbed organic residues in archaeological ceramics. World Arch. 40, 1, 2008, 26–47.
- Hanning u. a. 2014: E. Hanning/G. Döhner/L. Grunwald u. a., Die Keramiktechnologie der Mayener Großtöpfereien. Experimentalarchäologie in einem vormodernen Industrierevier 61, 2014, 409–448.
- Hofmann/ Kohtz 1995: B. Hoffman/H. Kohtz, Keramikexperimente - Untersuchungen zur Herstellungstechnik historischer Keramik. In: Experimentelle Archäologie. Bilanz 1994. Arch. Mitt. Nordwestdeutschland, Beih. 8 (Oldenburg 1995) 223-229. - http://www.exar.org/wp-content/uploads/2013/05/Experimentelle-Archaologie-Bilanz-1994.pdf
- Höpken 2011: C. Höpken, Gebrauchsspuren an römischer Keramik. Beispiele aus dem Südvicus von Straubing. Jahresber. Hist. Ver. Straubing 113, 2011, 41–70.
- Hörmann/ Baum 1977: B. Hörmann/N. Baum, Ein Experiment zur prähistorischen Töpferei. Natur und Mensch 1977, 49-51.
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- Jeffra 2001: C. Jeffra, Hair and potters: an experimental look at temper. World Arch. 40, 1, 2001, 151–161.
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- Lüdtke/ Dammers 1990: M. Lüdtke/K. Dammers, Die Keramikherstellung im offenen Feldbrand. In: Experimentelle Archäologie in Deutschland. Archäologische Mitteilungen aus Nordwestdeutschland, Beih. 4 (Oldenburg 1990) 321-326.
- Pfaffinger/ Nu0baumer 1995: M. Pfaffinger/A. Nußbaumer, Neue Hinweise zu Herstel1ungsverfahren früh- und mittelneolithischer Keramik in Niederbayern. In: Experimentelle Archäologie. Bilanz 1994. Arch. Mitt. Nordwestdeutschl. Beih. 8 (Oldenburg 1995) 179-185.
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- Weiss 2002: J. Weiss, Experimente zur Herstellung von Terra Sigillata und anderer römischer Keramik. Arch. Schweiz 25, 2002, 2–15. - http://doi.org/10.5169/seals-19557
- Winter 1971: A. Winter, Aufwüllsten und Brennen eines Riesenpithos. Arch. Anz. 1971, 541-552.